Leseproben aus Danach- Die Entfaltung einer neuen Welt -
Staatsgründung
...
Aus dem Gleiter stiegen tatsächlich Naila, der Erste und zwei Ratsmitglieder aus. Die Entscheidungshoheit im Staat, Herr Hartmann, meist nur kurz als der „Erste“ bezeichnet, war ein weit über achtzigjähriger, stattlicher Mann, der schon in Davor ein bekannter Politiker gewesen war. Aber im Gegensatz zu vielen anderen Politikern in Davor ließ er sich nie korrumpieren und hatte durch seine Integrität und seinen unermüdlichen Einsatz für die wahren Bedürfnisse der Menschen großes Ansehen im Volk erworben.
Der Erste trat wie in alten Zeiten sehr formell in Anzug und Krawatte auf. Immer noch war er ein dynamisch wirkender Mann, der mit seinem sehr kurz geschnittenen, noch vollen grauen Haar viel jünger aussah. Er war in Begleitung von Naila, einer jungen Frau, die seine Enkelin hätte sein können.
Die zierliche Naila, die Herrn Hartmann als weise Frau unterstützend zur Seite stand, hatte einen schwebenden leichten Gang und wirkte auf den ersten Blick fast zerbrechlich, doch der Eindruck täuschte. Wenn sie sprach, war ihre Stimme laut und eindringlich, und mit ihren blauen Augen konnte sie tief in die Seele eines Menschen hineinschauen. Sie erfasste es sofort, wenn jemand nicht die Wahrheit sprach, wies ihn aber nie direkt darauf hin. Ihr Blick allerdings ließ verstehen, dass sie alle Lügen und alle Unechtheit durchschaute. Naila war eine recht hübsche Frau mit halblangen dunkelblonden Haaren, die aber weder an Kleidung noch an Schmuck Interesse hatte und sich auch nicht schminkte.
Sie gehörte zu den wenigen Trues, die mit „goldenen Sandalen“ geboren wurde, so nannte man in Swarganien diejenigen, die bewusst und im vollen Gewahrsein zur Welt kamen und diese Bewusstheit auch nicht nach den ersten Lebensjahren verloren. Die meisten anderen Trues erreichten erst später, oft nach vielen Jahren der Selbstbeobachtung und Meditation diesen Erleuchtungszustand. Meistens trug Naila eine Jeans, ein weißes T-Shirt und lief barfuß. Doch als sie in den Rat gewählt wurde, schenkte man ihr vergoldete Sandalen, die sie nun ab und zu bei Staatsempfängen trug.
Staatsgründung
...
Aus dem Gleiter stiegen tatsächlich Naila, der Erste und zwei Ratsmitglieder aus. Die Entscheidungshoheit im Staat, Herr Hartmann, meist nur kurz als der „Erste“ bezeichnet, war ein weit über achtzigjähriger, stattlicher Mann, der schon in Davor ein bekannter Politiker gewesen war. Aber im Gegensatz zu vielen anderen Politikern in Davor ließ er sich nie korrumpieren und hatte durch seine Integrität und seinen unermüdlichen Einsatz für die wahren Bedürfnisse der Menschen großes Ansehen im Volk erworben.
Der Erste trat wie in alten Zeiten sehr formell in Anzug und Krawatte auf. Immer noch war er ein dynamisch wirkender Mann, der mit seinem sehr kurz geschnittenen, noch vollen grauen Haar viel jünger aussah. Er war in Begleitung von Naila, einer jungen Frau, die seine Enkelin hätte sein können.
Die zierliche Naila, die Herrn Hartmann als weise Frau unterstützend zur Seite stand, hatte einen schwebenden leichten Gang und wirkte auf den ersten Blick fast zerbrechlich, doch der Eindruck täuschte. Wenn sie sprach, war ihre Stimme laut und eindringlich, und mit ihren blauen Augen konnte sie tief in die Seele eines Menschen hineinschauen. Sie erfasste es sofort, wenn jemand nicht die Wahrheit sprach, wies ihn aber nie direkt darauf hin. Ihr Blick allerdings ließ verstehen, dass sie alle Lügen und alle Unechtheit durchschaute. Naila war eine recht hübsche Frau mit halblangen dunkelblonden Haaren, die aber weder an Kleidung noch an Schmuck Interesse hatte und sich auch nicht schminkte.
Sie gehörte zu den wenigen Trues, die mit „goldenen Sandalen“ geboren wurde, so nannte man in Swarganien diejenigen, die bewusst und im vollen Gewahrsein zur Welt kamen und diese Bewusstheit auch nicht nach den ersten Lebensjahren verloren. Die meisten anderen Trues erreichten erst später, oft nach vielen Jahren der Selbstbeobachtung und Meditation diesen Erleuchtungszustand. Meistens trug Naila eine Jeans, ein weißes T-Shirt und lief barfuß. Doch als sie in den Rat gewählt wurde, schenkte man ihr vergoldete Sandalen, die sie nun ab und zu bei Staatsempfängen trug.
Die Königin
.....
Die Lehrerin der Gesamtschule, wo Milena die sechste Klasse besuchte, hatte in dieser Woche „Karneval“ zum Projektthema gemacht. Die Schüler sollten Brauchtum und Geschichte des alten Fests, das auch Fasching oder Fastnacht genannt wurde, eruieren und über den Satz von Oscar Wilde, „Eine Maske erzählt uns mehr als ein Gesicht“, einen kleinen Aufsatz schreiben.
„Wer möchtet ihr einmal im Leben sein und warum?“ hatte sie gefragt und die Schüler angeregt, am Rosenmontag maskiert in die Schule zu kommen. Wie eigentlich jeder Vorschlag von ihr stieß auch dieser auf lautes Murren, und sogar üble Beschimpfungen wurden laut. Die junge Frau hatte die 6a, in der Milena die einzige Deutsche war, keineswegs im Griff.
„Es macht Spaß, in eine andere Rolle zu schlüpfen“, versuchte sie es nochmal. Ihr braucht dafür nicht groß etwas kaufen. Wer beispielsweise einen Clown darstellen will, schminkt sich einfach das Gesicht weiß, die Nase rot, oder für eine berühmte Sängerin wählt ihr eben deren typisches Styling. Lasst euch etwas einfallen! Wir feiern danach noch eine kleine Party. Ich besorge Cola, Burger und Pommes.“
Für die dreizehnjährige Milena klang das Partyangebot durchaus verlockend. Und wollte sie nicht immer schon eine schöne Königin sein? In der tristen Vorstadt wohnte sie mit ihrer Mutter in einem der heruntergekommenen, mit viel Graffiti verschmierten Mietshäusern im vierten Stock. Der Eingang zum Treppenhaus führte über einen verwahrlosten Hinterhof, vollgestellt mit Fahrrädern, Kinderwägen und Mülltonnen. Eine Ratte huschte vorbei, als Milena schnellen Schritts hindurchlief. Mittlerweile regnete es in Strömen. Durch ein geöffnetes Fenster drang das hysterische Kreischen eines Paars, das sich um Geld stritt.
„Zigaretten und Bier! An was anderes kannst du nicht denken. Und von was soll ich essen kaufen, du faule Dreckssau?“
„Halt die Klappe, dumme Fotze, sonst …!“
„Was sonst? Gib mir sofort meinen Geldbeutel zurück!“ Die Stimme der Frau klang schrill und aufgeregt. Es folgte ein dumpfer Schlag, dann lautes Geheul.
Milena hastete ungerührt die Treppe hoch. Sie hatte Hunger.
In der Küche standen Berge von schmutzigem Geschirr. Bis auf eine Miniportion angeklebter Spaghetti im Topf, etwas Thunfisch in einer aufgerissenen Dose und zwei Scheiben Toastbrot war der Kühlschrank gähnend leer. Milena nahm das Brot und suchte nach einem Aufstrich. Schließlich entdeckte sie ein geöffnetes Nougatglas auf einem Regal neben einer umgefallenen Schachtel Katzennahrung. Ein margarineverschmierter Löffel steckte darin und etwas Undefinierbares, das wie das Trockenfutter aus der Packung aussah.
„Hey, Mom, steh endlich auf, hier gibt’s nichts zu Essen“, schrie sie wütend. Doch die Mutter im Zimmer nebenan schnarchte weiter. Sie hatte die Türe aufgelassen und Milena sah die leer getrunkene Flasche Schnaps neben einer Lache aus Erbrochenem.
Angewidert warf sie die Tür ins Schloss.
.....
Die Lehrerin der Gesamtschule, wo Milena die sechste Klasse besuchte, hatte in dieser Woche „Karneval“ zum Projektthema gemacht. Die Schüler sollten Brauchtum und Geschichte des alten Fests, das auch Fasching oder Fastnacht genannt wurde, eruieren und über den Satz von Oscar Wilde, „Eine Maske erzählt uns mehr als ein Gesicht“, einen kleinen Aufsatz schreiben.
„Wer möchtet ihr einmal im Leben sein und warum?“ hatte sie gefragt und die Schüler angeregt, am Rosenmontag maskiert in die Schule zu kommen. Wie eigentlich jeder Vorschlag von ihr stieß auch dieser auf lautes Murren, und sogar üble Beschimpfungen wurden laut. Die junge Frau hatte die 6a, in der Milena die einzige Deutsche war, keineswegs im Griff.
„Es macht Spaß, in eine andere Rolle zu schlüpfen“, versuchte sie es nochmal. Ihr braucht dafür nicht groß etwas kaufen. Wer beispielsweise einen Clown darstellen will, schminkt sich einfach das Gesicht weiß, die Nase rot, oder für eine berühmte Sängerin wählt ihr eben deren typisches Styling. Lasst euch etwas einfallen! Wir feiern danach noch eine kleine Party. Ich besorge Cola, Burger und Pommes.“
Für die dreizehnjährige Milena klang das Partyangebot durchaus verlockend. Und wollte sie nicht immer schon eine schöne Königin sein? In der tristen Vorstadt wohnte sie mit ihrer Mutter in einem der heruntergekommenen, mit viel Graffiti verschmierten Mietshäusern im vierten Stock. Der Eingang zum Treppenhaus führte über einen verwahrlosten Hinterhof, vollgestellt mit Fahrrädern, Kinderwägen und Mülltonnen. Eine Ratte huschte vorbei, als Milena schnellen Schritts hindurchlief. Mittlerweile regnete es in Strömen. Durch ein geöffnetes Fenster drang das hysterische Kreischen eines Paars, das sich um Geld stritt.
„Zigaretten und Bier! An was anderes kannst du nicht denken. Und von was soll ich essen kaufen, du faule Dreckssau?“
„Halt die Klappe, dumme Fotze, sonst …!“
„Was sonst? Gib mir sofort meinen Geldbeutel zurück!“ Die Stimme der Frau klang schrill und aufgeregt. Es folgte ein dumpfer Schlag, dann lautes Geheul.
Milena hastete ungerührt die Treppe hoch. Sie hatte Hunger.
In der Küche standen Berge von schmutzigem Geschirr. Bis auf eine Miniportion angeklebter Spaghetti im Topf, etwas Thunfisch in einer aufgerissenen Dose und zwei Scheiben Toastbrot war der Kühlschrank gähnend leer. Milena nahm das Brot und suchte nach einem Aufstrich. Schließlich entdeckte sie ein geöffnetes Nougatglas auf einem Regal neben einer umgefallenen Schachtel Katzennahrung. Ein margarineverschmierter Löffel steckte darin und etwas Undefinierbares, das wie das Trockenfutter aus der Packung aussah.
„Hey, Mom, steh endlich auf, hier gibt’s nichts zu Essen“, schrie sie wütend. Doch die Mutter im Zimmer nebenan schnarchte weiter. Sie hatte die Türe aufgelassen und Milena sah die leer getrunkene Flasche Schnaps neben einer Lache aus Erbrochenem.
Angewidert warf sie die Tür ins Schloss.
Zwei Seelen
...
Im Haus war noch alles ganz still. Lenny hatte sich am Abend in sein Zimmer im Obergeschoß zurückgezogen, weil er spürte, dass Surya allein sein wollte.
Das Paar hatte zwei Schlafzimmer, wobei Surya meistens unten, in dem kleinen Raum im Erdgeschoß schlief. Sie war in der Regel schon sehr früh munter und liebte es, gleich nach dem Aufwachen barfuß über den Rasen zu laufen, um das kühle, feuchte Gras unter den Fußsohlen zu spüren.
Surya streckte und dehnte sich ein wenig und öffnete die Terrassentür. Ein angenehm kühler Luftzug streifte ihre nackte Haut. Sie warf sich ihr kurzes grünes Leinenkleid über und ging hinaus. Der Mond stand noch als schmale Sichel am Himmel.
Ich muss mir über das, was ich wirklich will, vollkommen im Klaren sein, dachte sie. Vielleicht hilft es mir, wenn ich einen längeren Spaziergang mache. Ins Büro mag ich heute sowieso nicht gehen. Justin wird es schon verstehen.
Im Garten raschelte es. Ein kleiner Igel eilte unter der Hängematte davon. Surya hatte plötzlich den Eindruck, alles viel intensiver als sonst wahrzunehmen, fast so, als ob jemand an ihren Sinneserfahrungen teilhaben würde.
Sie schlenderte an den Beeten vorbei, wo blauer Rittersporn, rosa Malven und Löwenmäulchen wuchsen, roch ein wenig an den üppig blühenden Rosen, die an Pits Geräteschuppen hochrankten und überquerte den schmalen gekiesten Fußweg, der die Gemeinschaftsfläche ihrer Hausgruppe von dem Nutzgarten der Grundeinheit trennte.
Am Eingang dieses Gartens war eine Anschlagtafel angebracht, auf der jeder sich informieren konnte, welche Arbeiten demnächst zu erledigen waren. Nur selten hatte sich Surya bisher daran beteiligt. Ihr fehlte einfach die Zeit. Betroffen stellte sie fest, dass sie bereits seit über vier Wochen dieses Gelände nicht mehr betreten hatte. Inzwischen waren die Bohnen schon hoch aufgewachsen und ihre Hülsenfrüchte bald erntereif. Liebevoll strich Surya mit ihren Händen über die grünen, sich samtig anfühlenden Schoten und nahm einen tiefen Atemzug. Wie herrlich die Erde nach Sommer duftete!
Auch die vielen Beerengewächse trugen reife Früchte. Ein paar von ihnen durfte ein jeder pflücken, doch der Großteil der Ernte wurde im Laden verteilt. Surya naschte ein paar süß schmeckende Erdbeeren, dann lief sie langsam an dicken Kürbissen, Möhren und Zucchini vorbei und verließ wieder den Garten.
Als sie ins Zentrum der Grundeinheit gelangte, bemerkte sie überrascht, dass Georg auf einer der Bänke unter der Esskastanie saß und mit einem anderen Mann seines Alters plauderte. Der ehemalige Bäcker war ein Frühaufsteher aus Gewohnheit. Aber auch in der kleinen Küche im Gemeinschaftsgebäude schien schon jemand zu sein, obwohl gerade erst die Sonne aufgegangen war. Sie hörte das Klappern von Tassen, und der Geruch von Kaffee stieg ihr in die Nase.
„Hi, Surya, so früh auf den Beinen?“ rief Georg ihr fröhlich zu. „Hast du jetzt schon eine Yogastunde?“
Surya verneinte. Ihr fehlte die Lust auf ein Gespräch und Georg plauderte gern recht lange. Deshalb ging sie schnell weiter. Irgendwie zog es sie in den nördlichen Bezirk. Insgeheim hoffte sie Richard zu treffen, den True aus Karlsruhe, der vor kurzem dorthin gezogen war. Vielleicht hatte er einen Rat für sie.
Ihr Weg führte durch eine grüne Wiese, die von einem schmalen, sich schlängelnden Bächlein durchzogen wurde, vorbei zu einer kleinen Kneippanlage. Von hier aus konnte sie den hohen Turm mit dem als Blütenkelch ausgebildeten Andachtsraum bereits deutlich sehen.
Niemand außer ihr war unterwegs. Nur zwei Katzen spielten im Sand eines Spielplatzes. Doch als sie zu den Gewerbeeinheiten gelangte, traf sie eine junge Frau, die gerade die Tür zum Regionalladen öffnete. Vor dem Geschäft standen einige vollgefüllte Kisten mit frisch geerntetem Biogemüse und Früchten.
In ganz Swarganien gab es nur noch Erzeugnisse aus Biogärten, denn es war selbstverständlich, dass alles in bester Qualität angebaut wurde. Auch bei allen anderen Produkten, die man erwerben konnte, legte man auf Qualität und Nachhaltigkeit großen Wert.
...
Im Haus war noch alles ganz still. Lenny hatte sich am Abend in sein Zimmer im Obergeschoß zurückgezogen, weil er spürte, dass Surya allein sein wollte.
Das Paar hatte zwei Schlafzimmer, wobei Surya meistens unten, in dem kleinen Raum im Erdgeschoß schlief. Sie war in der Regel schon sehr früh munter und liebte es, gleich nach dem Aufwachen barfuß über den Rasen zu laufen, um das kühle, feuchte Gras unter den Fußsohlen zu spüren.
Surya streckte und dehnte sich ein wenig und öffnete die Terrassentür. Ein angenehm kühler Luftzug streifte ihre nackte Haut. Sie warf sich ihr kurzes grünes Leinenkleid über und ging hinaus. Der Mond stand noch als schmale Sichel am Himmel.
Ich muss mir über das, was ich wirklich will, vollkommen im Klaren sein, dachte sie. Vielleicht hilft es mir, wenn ich einen längeren Spaziergang mache. Ins Büro mag ich heute sowieso nicht gehen. Justin wird es schon verstehen.
Im Garten raschelte es. Ein kleiner Igel eilte unter der Hängematte davon. Surya hatte plötzlich den Eindruck, alles viel intensiver als sonst wahrzunehmen, fast so, als ob jemand an ihren Sinneserfahrungen teilhaben würde.
Sie schlenderte an den Beeten vorbei, wo blauer Rittersporn, rosa Malven und Löwenmäulchen wuchsen, roch ein wenig an den üppig blühenden Rosen, die an Pits Geräteschuppen hochrankten und überquerte den schmalen gekiesten Fußweg, der die Gemeinschaftsfläche ihrer Hausgruppe von dem Nutzgarten der Grundeinheit trennte.
Am Eingang dieses Gartens war eine Anschlagtafel angebracht, auf der jeder sich informieren konnte, welche Arbeiten demnächst zu erledigen waren. Nur selten hatte sich Surya bisher daran beteiligt. Ihr fehlte einfach die Zeit. Betroffen stellte sie fest, dass sie bereits seit über vier Wochen dieses Gelände nicht mehr betreten hatte. Inzwischen waren die Bohnen schon hoch aufgewachsen und ihre Hülsenfrüchte bald erntereif. Liebevoll strich Surya mit ihren Händen über die grünen, sich samtig anfühlenden Schoten und nahm einen tiefen Atemzug. Wie herrlich die Erde nach Sommer duftete!
Auch die vielen Beerengewächse trugen reife Früchte. Ein paar von ihnen durfte ein jeder pflücken, doch der Großteil der Ernte wurde im Laden verteilt. Surya naschte ein paar süß schmeckende Erdbeeren, dann lief sie langsam an dicken Kürbissen, Möhren und Zucchini vorbei und verließ wieder den Garten.
Als sie ins Zentrum der Grundeinheit gelangte, bemerkte sie überrascht, dass Georg auf einer der Bänke unter der Esskastanie saß und mit einem anderen Mann seines Alters plauderte. Der ehemalige Bäcker war ein Frühaufsteher aus Gewohnheit. Aber auch in der kleinen Küche im Gemeinschaftsgebäude schien schon jemand zu sein, obwohl gerade erst die Sonne aufgegangen war. Sie hörte das Klappern von Tassen, und der Geruch von Kaffee stieg ihr in die Nase.
„Hi, Surya, so früh auf den Beinen?“ rief Georg ihr fröhlich zu. „Hast du jetzt schon eine Yogastunde?“
Surya verneinte. Ihr fehlte die Lust auf ein Gespräch und Georg plauderte gern recht lange. Deshalb ging sie schnell weiter. Irgendwie zog es sie in den nördlichen Bezirk. Insgeheim hoffte sie Richard zu treffen, den True aus Karlsruhe, der vor kurzem dorthin gezogen war. Vielleicht hatte er einen Rat für sie.
Ihr Weg führte durch eine grüne Wiese, die von einem schmalen, sich schlängelnden Bächlein durchzogen wurde, vorbei zu einer kleinen Kneippanlage. Von hier aus konnte sie den hohen Turm mit dem als Blütenkelch ausgebildeten Andachtsraum bereits deutlich sehen.
Niemand außer ihr war unterwegs. Nur zwei Katzen spielten im Sand eines Spielplatzes. Doch als sie zu den Gewerbeeinheiten gelangte, traf sie eine junge Frau, die gerade die Tür zum Regionalladen öffnete. Vor dem Geschäft standen einige vollgefüllte Kisten mit frisch geerntetem Biogemüse und Früchten.
In ganz Swarganien gab es nur noch Erzeugnisse aus Biogärten, denn es war selbstverständlich, dass alles in bester Qualität angebaut wurde. Auch bei allen anderen Produkten, die man erwerben konnte, legte man auf Qualität und Nachhaltigkeit großen Wert.
Schnee
..
Gleich, nachdem Daniel gegangen war, hatte sie ihren Geist für alle telepathischen Kontaktversuche verschlossen. Sie wollte für niemanden erreichbar sein, auch für Lenny nicht, falls der sich doch einmal bei ihr melden sollte. Um sich ein wenig Abwechslung zu verschaffen, hatte sie einige neue Bücher mit in die Hütte geschleppt, aber irgendwie interessierten die sie plötzlich nicht mehr. Nach ein paar Mal darin dem sie ein paar Mal darin herumgeblättern hatte, legte sie sie lustlos zur Seite.
Was hatte ihr Kalima alles aufgetragen? Ja, klar, die Intensivierung der Sinne, die Atemtechnik, wobei sie zwischen Ein- und Ausatmen sich ausdehnen sollte und das Nachdenken über die Ich-Identität. Doch zu all dem fühlte sie sich, genau wie zum Lesen, nicht recht motiviert. Nach einiger Zeit merkte sie, dass sie eigentlich gar nichts mit sich selbst anfangen konnte. Alle Wege in der Umgebung kannte sie bereits und das Essenkochen machte ihr nur wenig Spaß. Sie begann sich schrecklich zu langweilen. Manchmal schaute sie den ganzen Tag lang teilnahmslos aus dem Fenster.
Wäre der Winter doch bloß schon vorbei, seufzte sie manchmal, und anstatt sich auf ihre spirituellen Aufgaben zu konzentrieren, erinnerte sie sich schwermütig an ihre schöne Kindheit, an die einstige lebhafte Studentenwohngemeinschaft, die ersten Jahre in Sharing mit den Kindern oder an die vielen Liebesstunden mit Lenny.
All das Schöne war endgültig vorbei und würde so nie wieder kommen. Surya versank in einem Meer aus Tränen. Eine Wehmut hatte sie ergriffen, ein Leid, das alles um sie herum ausblendete. Aber die Intensität der Gefühle hatte auch einen Reiz, dem sie sich nicht entziehen konnte.
Die Vergänglichkeit ist von schier unerträglicher Süße, schrieb sie eines Nachts in ihr Tagebuch, als sie wie oft schlaflos wach lag. Kann man etwa an Leid genauso wie an Freude hängen? Der Gedanke bereitete ihr ein gewisses Unbehagen. Sie stand auf und lief unruhig in der Hütte auf und ab.
Ich hafte viel zu sehr an allem, dachte sie. Vor kurzem meinte ich schon, Lenny losgelassen zu haben, aber es war nur von kurzer Dauer. Wahrscheinlich nutzt es nichts, wenn man sich nur einmal der Trauer stellt. Die Loslösung ist ein Prozess!
Anhaftung ist eine der Ursachen des Leids und sehr schwer zu beseitigen, hatte Kalima ihr einst erklärt. Aber erst wenn man Anhaftungen und Identifikationen überwunden hat, öffnet sich das Bewusstsein und man kann den inneren unvergänglichen Kern, das Absolute, erfahren. Absolut kommt von dem lateinischen absolutos und bedeutet losgelöst, frei von allem, ergänzte Kalima damals noch. Frei jedoch fühlte sie sich keineswegs. Alles war schwer, schien an ihr zu kleben. Seitdem sie hier oben allein war, hatte sie keinerlei Fortschritte gemacht. Eher im Gegenteil.
Surya stöhnte. Es war sinnlos, sie kam nicht weiter.
Resigniert ließ sie sich wieder in ihr Bett fallen. Doch es dauerte nicht lange, und sie wurde von einem furchtbaren Donnerschlag wach. Draußen heulte der Wind, die Fensterläden klapperten. Es wurde plötzlich so kalt, dass Surya sogar unter ihrer Decke fror. Sie stand auf und schürte den Ofen an. Der Wetterumschwung passte ihr gar nicht. Morgen wollte eigentlich Daniel kommen und ein paar frische Lebensmittel bringen. Die Hülsenfrüchte und das eingemachte Obst hingen ihr schon zum Halse raus.
Es wurde den ganzen Tag nicht richtig hell, es schneite und schneite. Abends ließ der Wind etwas nach und der Schnee fiel nur noch vereinzelt in dicken Flocken. Surya beschloss, nach draußen zu gehen, um den Weg vor der Haustüre frei zu schaufeln. Sie zog sich ein paar warme Sachen an, setzte ihre rote Bommelmütze auf und hängte sich einen dicken Schal um. Draußen kam gerade der Vollmond hinter ein paar grauen Wolken hervor. Der Schnee glitzerte im fahlen Licht. Es roch nach Winter.
Plötzlich ein Knacken im Ohr. Es war so, als ob jemand das ewig plappernde Gedankenradio in ihrem Kopf ausgeschaltet hätte. Stille. Nichts als pure Wahrnehmung.
In der Ferne blökte ein Rehbock. Die Tanne vor dem Haus verströmte einen harzigen Duft. Surya legte ihren Kopf in den Nacken und spürte, wie ein paar große Flocken sanft ihr Gesicht berührten. In der Kälte bildete ihr Atem kleine Wölkchen. Lautlos versanken ihre Schritte in der weißen Weichheit. Sie kam kaum vorwärts und keuchte vor Anstrengung. Alles um sie herum war mit einem Mal so neu, so bedeutsam, so intensiv. So wie damals, als sie noch ein Kind war.
Drinnen in der Hütte wärmte sie nach getaner Arbeit ihre klammen Finger am Ofen. Das Holz knisterte und loderte hell auf, als sie ein paar trockene Stücke nachlegte. Sie schaute den tanzenden Flammen zu und setzte Teewasser auf. Es gab in diesem Augenblick nichts, was sie lieber getan hätte. Alles war richtig, vollkommen gegenwärtig. Eine stille Freude erfasste sie. Als sie in langsamen Schlucken ihren Tee trank, meinte sie noch nie etwas Besseres zu sich genommen zu haben.
Auf einmal verspürte sie den unbändigen Drang, sich auf ihr Bett zu setzen. Sie verschränkte die Beine im Meditationssitz und schloss die Augen. Wie festgewurzelt saß sie über Stunden dort. Ein feiner Summton war zu hören, der ihren Körper durchdrang und ihre Zellen vibrieren ließ. Der Atem kam in immer längeren Abständen, ohne dass sie ihn bewusst kontrollierte. Irgendwann war es so, als ob sie ganz aufhören würde zu atmen. Eine lange Pause zwischen den Atemzügen entstand, in der sie sich unendlich ausdehnte. In dem Moment fielen alle Schichten, die ihr absolutes Selbst verbargen, von ihr ab. Glückseligkeit durchströmte sie.
Der Morgen dämmerte bereits, als sie von ihrem Lotussitz aufstand. Etwas hatte sich verändert, obwohl doch alles so war wie zuvor. Die Sehnsucht war weg! Dieses entsetzliche Ziehen in der Brust, dieses Warten auf Etwas.
Sie hatte Erfüllung gefunden.
Leseprobe aus Danach-Aufbruch in ein neues Zeitalter -
Auszug aus "Das Wunder"
....Wie jedes Jahr war die Halle geschmückt mit Vasen voller wunderschöner Blumen. Für Surya als Angehörige der Forschungsgruppe EPI stand hinter den Reihen, die für die Kinder reserviert waren, ein Platz zur Verfügung, von dem aus sie einen guten Blick auf die Bühne hatte, wo in der Mitte eine große Tafel stand, auf der ein blauer Himmel mit einer gelben Sonne zu sehen war. Die Sonne hatte ein Gesicht, das ein freundliches Lächeln zeigte. Ihre Augen schauten zur Erde herab. Man hatte auch der Erde ein Gesicht gegeben, doch dieses sah ernst, ja, fast traurig aus.
Als die Halle bis auf den letzten Platz gefüllt war, erschienen ein paar Musiker auf der Bühne, die den Festakt mit einem ergreifenden a capella gesungen Lied einläuteten. Danach trat der älteste Einwohner der Stadt Karlsruhe, ein ehemaliger Lehrer hervor. Er hielt stets zu Beginn eine Rede, in der er den Kindern erklärte, aus welchem Anlass das große Fest gefeiert würde.
„Liebe Kinder, liebe Anwesenden“, begann er und zeigte auf die Sonne an der Wandtafel. „Heute ist der letzte Tag der dreitägigen Puja zu Ehren des Sonnenwunders. Puja ist ein altes Sanskrit-Wort und bedeutet Verehrung. Verehrung für die Sonne, die mit ihrem magischen Gold die Herzen der Menschen geöffnet hat. Das, was wir das Ereignis nennen, geschah vor über dreißig Jahren. Damals hatte die Umweltzerstörung schreckliche Ausmaße angenommen. In vielen Ländern gab es Krieg, der die Menschen dazu veranlasste, ihre Heimat zu verlassen. Unzählige waren auf der Flucht. Eine Zeitlang sah es danach aus, als ob sogar ein dritter Weltkrieg ausbrechen würde, Truppen wurden in Stellung gebracht und wieder zurückgezogen, sodass sich die Menschen in Sicherheit wiegten. Dann aber, ganz plötzlich, brach doch der große Krieg aus. Er begann mit einem Chemiewaffenabwurf im Osten. Die Menschen hatten große Angst und befürchteten sogar einen Gegenschlag mit Atombomben. Sie liefen in die Kirchen und Moscheen und beteten zu Gott. Nur ein echtes Wunder, so glaubten sie, könnte die Menschen und die Erde noch retten. Und tatsächlich! Der Himmel kam den Betenden zu Hilfe. Allerdings sah es anfangs gar nicht danach aus ...“
Der Lehrer ging zur Tafel, malte ein paar graue Eier, die vom Himmel regneten, und erklärte: „Ein großer Asteroid näherte sich rasch der Erde, doch er explodierte auf mysteriöse Weise in der Erdatmosphäre, sodass er in viele große Gesteinsbrocken zerfiel, die schließlich unsere Erde erreichten. Es folgten Erdbeben, Vulkanausbrüche und Sturmfluten, und zur selben Zeit spuckte die Sonne eine riesige Plasmawolke aus. Sie zerstörte alle Kommunikationssysteme, und der Strom fiel aus. In vielen Städten entstanden große Brände, und bald umhüllte eine dichte Wolke aus giftigen Gasen und Asche die Erde. Es wurde ganz finster – das war der erste Tag des Ereignisses.“
Der Lehrer machte eine bedeutungsvolle Pause und schaute in die Runde. Er blickte in die entsetzten Gesichter der Anwesenden, die seinen Ausführungen gespannt gelauscht hatten. Dann ging er erneut zur Tafel und zeichnete eine Blase an den Mund der Sonne, in die er viele goldene Herzchen setzte. „Viele glaubten, dass es nun kein Überleben für die Menschheit mehr gäbe“, verkündete er mit gesenkter Stimme. „Doch die Sonne hatte in ihrer Gaswolke etwas Besonderes mitgebracht, nämlich Milliarden winziger Goldpartikel, die sozusagen in der Atmosphäre schwebten und auf die Herzen der Menschen so direkt einwirkten, dass sie sich unmittelbar zu öffnen begannen.
Am zweiten Tag der Dunkelheit fielen manche Menschen kurzzeitig in einen Tiefschlaf, und andere hatten Halluzinationen. Währenddessen spürten sie, wie sich ihre Herzen vollständig öffneten und mit Liebe erfüllt wurden. Nur noch die Nachbeben sorgten für wellenartige Erschütterungen, dann kam die Erde langsam wieder zur Ruhe.
Und schließlich, am dritten Tag, konnten die Menschen plötzlich in ihr Innerstes schauen. Alles Gute und Wahre wurde ihnen offenbar, aber auch alle Fehler, alle schlechten Gedanken und Taten – einfach alles kam ans Licht ihres Bewusstseins.“ Der alte Mann verließ ein weiteres Mal sein Pult, um jetzt einen Menschen auf die Tafel zu malen. Er versah seinen Körper mit vielen dunklen Flecken, denen er Begriffe zuordnete, wie etwa Gier oder Neid. „Man hat das Ereignis damals „Apokalypse“[i] oder auch „Enthüllung“ genannt“, sagte er sehr ernst. „Ein Teil der Menschheit war einerseits tief berührt, aber andererseits auch tief betroffen, die eigenen Schattenseiten so bloßgestellt zu sehen. Daher beschlossen die meisten von ihnen, sich zu ändern.“ Er malte das Gesicht der Figur auf der Tafel schamrot an, um zu bekräftigen, was damals mit den Menschen innerlich geschehen war, dann sprach er weiter: „Andere jedoch verdrängten das Schlechte, das ihnen enthüllt wurde, und wollten so weitermachen wie bisher. Sie versuchten, ihr Herz wieder zu verschließen. Es waren leider sehr, sehr viele.“ Er fügte dem Schaubild nun noch einen zweiten Menschen hinzu, der finster wirkte, und sagte mit trauriger Stimme: „Diese Menschen wurden vor den Augen der anderen immer durchsichtiger, und schließlich verschwanden sie ganz. Sie setzen seither ihr Leben auf einer anderen Schwingungsebene fort – dort existiert eine Parallelwelt, die der unsrigen Welt sehr ähnlich ist, sodass sie ihr vertrautes Leben weiterführen können.“ Mit einer energischen Handbewegung löschte der Lehrer mit einem Schwamm die finstere Figur wieder aus.
Als er sich seinem Publikum wieder zuwandte, sah er sichtlich erleichtert aus. Er streckte beide Hände nach oben, als wollte er mit ihnen in den Himmel reichen, und sagte in dankbarem Tonfall: „An diesem dritten Tag erschienen die Elementargeister der Lüfte. Diese Naturwesen litten schon lange unter der zunehmenden Umweltverschmutzung und vor allem unter den negativen Gedanken der Menschen. Nun war ihre Zeit gekommen, und sie durften endlich helfend eingreifen. Sie erzeugten mächtige, wirbelnde Stürme, die reinen Lichtäther mit sich führten, und dieser hatte die Kraft, die verseuchte Luft zu reinigen und frisch zu beleben.“ Ein wenig unbeholfen zeichnete er auf der Tafel schmetterlingsähnliche Wesen um die Erde herum.
„Die Menschen erfuhren eine Katharsis, das ist ein griechisches Wort und bedeutet seelische Reinigung“, erklärte der ehemalige Lehrer mit Blick auf einige Kinder, die ihn verständnislos anschauten. Er zeichnete einige rote Flammen über die dunklen Flecken, die den Menschen mit dem schamroten Antlitz umgaben. „Auf diese Art gereinigt, erweiterte sich das Bewusstsein der Menschen so stark, dass sich ihre Wahrnehmung automatisch auf das Verbindende zwischen allen Lebewesen richtete. Auch, wenn es schwer vorstellbar ist für die Kleineren von euch“ – er blickte auf die jüngsten Kinder in der ersten Reihe –, „waren die Menschen damals daran gewöhnt, sich selbst allem und jedem gegenüber als etwas Getrenntes zu empfinden, das war für sie ganz normal. Damit ihr es besser verstehen könnt, möchte ich es euch mit einem kleinen Spiel demonstrieren. Dazu bitte ich jetzt ein paar Zehn- oder Elfjährige zu mir hoch zu kommen.“
Auf diese Worte hatten viele der größeren Kinder, die aus den Jahren zuvor schon wussten, was nun passieren würde, nur gewartet, und etwa dreißig stürmten auf die Bühne. Ein paar wenige hatten sich zuvor verkleidet und standen nun als Baum, Sonnenblume, als Hund oder Eule dabei. Eine Frau verteilte Scheuklappen, die sich die Kinder am Kopf befestigten, sodass sie nicht mehr nach rechts und links sehen konnten. Dann stellte sich jeder einfach irgendwo hin, schaute dabei vielleicht den einen oder anderen an und drehte wieder anderen den Rücken zu.
„So war das früher“, erklärte der alte Mann. „Wir haben uns von vielen Mitmenschen und auch Tieren und Pflanzen abgesondert und nur wenige Lebewesen wie mit einem Tunnelblick wahrgenommen. Unser Bewusstsein war sehr eingegrenzt, sodass jeder für sich allein stand. Manche haben wir gemocht, mit anderen wollten wir nichts zu tun haben. Es gab viel Einsamkeit und Ablehnung, und das hat uns Kummer bereitet. Könnt ihr das von da unten sehen?“
Ein paar der jüngeren Kinder in der ersten Reihe nickten und schüttelten sich dabei. Die Kinder auf der Bühne kicherten leise, weil die Jüngeren sie so bedrückt anschauten.
„Dann aber kam die Liebe“, rief der Lehrer entzückt, „und unser Bewusstsein wurde ganz weit, weil die Liebe uns die Klappen von den Augen riss.“
Ein überaus freundlich lächelnder dicker Mann kam nun ein wenig ächzend auf die Bühne. Er trug ein Schild mit der Aufschrift „Liebe“ vor seiner Brust. Beherzt nahm er jedem Kind die Scheuklappen wieder ab.
„Liebe Kinder, stellt euch bitte im Kreis auf und haltet euch an den Händen“, bat nun der Lehrer, und die Kinder folgten schnell seiner Aufforderung. Obwohl es nur eine Demonstration für die Kleineren war, fühlten sie sich doch erleichtert, wieder in alle Richtungen sehen zu können.
Der dicke Mann stellte sich in ihre Mitte und zog mit der einen Hand ein Knäuel bunter Fäden aus der Jackentasche. Er reichte jedem Kind das Ende eines der Fäden, während er das andere selbst festhielt. Ein paar zogen kräftig daran, was den Dicken bewegte, breit grinsend hin und her zu schaukeln. Alle lachten, während der ganze Kreis in eine lustige Bewegung geriet. Die Kleinen in der ersten Reihe juchzten vor Freude.
„So ist es heute“, freute sich auch der Lehrer. „Wir fühlen uns nicht mehr voneinander getrennt, auch nicht von den Tieren und Pflanzen. Wir fühlen wie ein großer Organismus, der durch die Fäden der Liebe verbunden ist. Diese große Veränderung in unserem Bewusstsein nennen wir den ‚Quantensprung‘.
Der alte Lehrer klatschte in die Hände, um den Bühnenfiguren zu bedeuten, dass die Vorstellung jetzt beendet wäre. Das Publikum klatschte ebenfalls, um sich bei den Darbietern zu bedanken, die sich nun fröhlich hüpfend wieder zu ihren Plätzen bewegten.
„Das alles hatte sich innerhalb von drei Tagen ereignet“, fasste der Redner noch einmal zusammen. „Danach sah die Welt ganz anders aus. Am vierten Tag war die Atmosphäre bereits so gereinigt, dass es langsam wieder hell wurde auf der Erde. Es war jetzt ganz still“ – er hatte zu flüstern begonnen, sodass es in der ganzen Halle sofort leise wurde –, „und die Luft war glasklar.“ Er machte eine bedeutende Pause, bevor er zum krönenden Abschluss kam: „Das war der Moment, an dem die Menschen bereit waren für das eigentliche, noch größere Wunder, die Offenbarung des innewohnenden Gottes! Und wir alle werden in wenigen Minuten erneut dieses Wunder erfahren.“
[i] Apokalypse bedeutet „Enthüllung“ (wörtlich: „Entschleierung“); in der Bibel übersetzt als „Offenbarung“ (lt. Wikipedia).
..
Gleich, nachdem Daniel gegangen war, hatte sie ihren Geist für alle telepathischen Kontaktversuche verschlossen. Sie wollte für niemanden erreichbar sein, auch für Lenny nicht, falls der sich doch einmal bei ihr melden sollte. Um sich ein wenig Abwechslung zu verschaffen, hatte sie einige neue Bücher mit in die Hütte geschleppt, aber irgendwie interessierten die sie plötzlich nicht mehr. Nach ein paar Mal darin dem sie ein paar Mal darin herumgeblättern hatte, legte sie sie lustlos zur Seite.
Was hatte ihr Kalima alles aufgetragen? Ja, klar, die Intensivierung der Sinne, die Atemtechnik, wobei sie zwischen Ein- und Ausatmen sich ausdehnen sollte und das Nachdenken über die Ich-Identität. Doch zu all dem fühlte sie sich, genau wie zum Lesen, nicht recht motiviert. Nach einiger Zeit merkte sie, dass sie eigentlich gar nichts mit sich selbst anfangen konnte. Alle Wege in der Umgebung kannte sie bereits und das Essenkochen machte ihr nur wenig Spaß. Sie begann sich schrecklich zu langweilen. Manchmal schaute sie den ganzen Tag lang teilnahmslos aus dem Fenster.
Wäre der Winter doch bloß schon vorbei, seufzte sie manchmal, und anstatt sich auf ihre spirituellen Aufgaben zu konzentrieren, erinnerte sie sich schwermütig an ihre schöne Kindheit, an die einstige lebhafte Studentenwohngemeinschaft, die ersten Jahre in Sharing mit den Kindern oder an die vielen Liebesstunden mit Lenny.
All das Schöne war endgültig vorbei und würde so nie wieder kommen. Surya versank in einem Meer aus Tränen. Eine Wehmut hatte sie ergriffen, ein Leid, das alles um sie herum ausblendete. Aber die Intensität der Gefühle hatte auch einen Reiz, dem sie sich nicht entziehen konnte.
Die Vergänglichkeit ist von schier unerträglicher Süße, schrieb sie eines Nachts in ihr Tagebuch, als sie wie oft schlaflos wach lag. Kann man etwa an Leid genauso wie an Freude hängen? Der Gedanke bereitete ihr ein gewisses Unbehagen. Sie stand auf und lief unruhig in der Hütte auf und ab.
Ich hafte viel zu sehr an allem, dachte sie. Vor kurzem meinte ich schon, Lenny losgelassen zu haben, aber es war nur von kurzer Dauer. Wahrscheinlich nutzt es nichts, wenn man sich nur einmal der Trauer stellt. Die Loslösung ist ein Prozess!
Anhaftung ist eine der Ursachen des Leids und sehr schwer zu beseitigen, hatte Kalima ihr einst erklärt. Aber erst wenn man Anhaftungen und Identifikationen überwunden hat, öffnet sich das Bewusstsein und man kann den inneren unvergänglichen Kern, das Absolute, erfahren. Absolut kommt von dem lateinischen absolutos und bedeutet losgelöst, frei von allem, ergänzte Kalima damals noch. Frei jedoch fühlte sie sich keineswegs. Alles war schwer, schien an ihr zu kleben. Seitdem sie hier oben allein war, hatte sie keinerlei Fortschritte gemacht. Eher im Gegenteil.
Surya stöhnte. Es war sinnlos, sie kam nicht weiter.
Resigniert ließ sie sich wieder in ihr Bett fallen. Doch es dauerte nicht lange, und sie wurde von einem furchtbaren Donnerschlag wach. Draußen heulte der Wind, die Fensterläden klapperten. Es wurde plötzlich so kalt, dass Surya sogar unter ihrer Decke fror. Sie stand auf und schürte den Ofen an. Der Wetterumschwung passte ihr gar nicht. Morgen wollte eigentlich Daniel kommen und ein paar frische Lebensmittel bringen. Die Hülsenfrüchte und das eingemachte Obst hingen ihr schon zum Halse raus.
Es wurde den ganzen Tag nicht richtig hell, es schneite und schneite. Abends ließ der Wind etwas nach und der Schnee fiel nur noch vereinzelt in dicken Flocken. Surya beschloss, nach draußen zu gehen, um den Weg vor der Haustüre frei zu schaufeln. Sie zog sich ein paar warme Sachen an, setzte ihre rote Bommelmütze auf und hängte sich einen dicken Schal um. Draußen kam gerade der Vollmond hinter ein paar grauen Wolken hervor. Der Schnee glitzerte im fahlen Licht. Es roch nach Winter.
Plötzlich ein Knacken im Ohr. Es war so, als ob jemand das ewig plappernde Gedankenradio in ihrem Kopf ausgeschaltet hätte. Stille. Nichts als pure Wahrnehmung.
In der Ferne blökte ein Rehbock. Die Tanne vor dem Haus verströmte einen harzigen Duft. Surya legte ihren Kopf in den Nacken und spürte, wie ein paar große Flocken sanft ihr Gesicht berührten. In der Kälte bildete ihr Atem kleine Wölkchen. Lautlos versanken ihre Schritte in der weißen Weichheit. Sie kam kaum vorwärts und keuchte vor Anstrengung. Alles um sie herum war mit einem Mal so neu, so bedeutsam, so intensiv. So wie damals, als sie noch ein Kind war.
Drinnen in der Hütte wärmte sie nach getaner Arbeit ihre klammen Finger am Ofen. Das Holz knisterte und loderte hell auf, als sie ein paar trockene Stücke nachlegte. Sie schaute den tanzenden Flammen zu und setzte Teewasser auf. Es gab in diesem Augenblick nichts, was sie lieber getan hätte. Alles war richtig, vollkommen gegenwärtig. Eine stille Freude erfasste sie. Als sie in langsamen Schlucken ihren Tee trank, meinte sie noch nie etwas Besseres zu sich genommen zu haben.
Auf einmal verspürte sie den unbändigen Drang, sich auf ihr Bett zu setzen. Sie verschränkte die Beine im Meditationssitz und schloss die Augen. Wie festgewurzelt saß sie über Stunden dort. Ein feiner Summton war zu hören, der ihren Körper durchdrang und ihre Zellen vibrieren ließ. Der Atem kam in immer längeren Abständen, ohne dass sie ihn bewusst kontrollierte. Irgendwann war es so, als ob sie ganz aufhören würde zu atmen. Eine lange Pause zwischen den Atemzügen entstand, in der sie sich unendlich ausdehnte. In dem Moment fielen alle Schichten, die ihr absolutes Selbst verbargen, von ihr ab. Glückseligkeit durchströmte sie.
Der Morgen dämmerte bereits, als sie von ihrem Lotussitz aufstand. Etwas hatte sich verändert, obwohl doch alles so war wie zuvor. Die Sehnsucht war weg! Dieses entsetzliche Ziehen in der Brust, dieses Warten auf Etwas.
Sie hatte Erfüllung gefunden.
Leseprobe aus Danach-Aufbruch in ein neues Zeitalter -
Auszug aus "Das Wunder"
....Wie jedes Jahr war die Halle geschmückt mit Vasen voller wunderschöner Blumen. Für Surya als Angehörige der Forschungsgruppe EPI stand hinter den Reihen, die für die Kinder reserviert waren, ein Platz zur Verfügung, von dem aus sie einen guten Blick auf die Bühne hatte, wo in der Mitte eine große Tafel stand, auf der ein blauer Himmel mit einer gelben Sonne zu sehen war. Die Sonne hatte ein Gesicht, das ein freundliches Lächeln zeigte. Ihre Augen schauten zur Erde herab. Man hatte auch der Erde ein Gesicht gegeben, doch dieses sah ernst, ja, fast traurig aus.
Als die Halle bis auf den letzten Platz gefüllt war, erschienen ein paar Musiker auf der Bühne, die den Festakt mit einem ergreifenden a capella gesungen Lied einläuteten. Danach trat der älteste Einwohner der Stadt Karlsruhe, ein ehemaliger Lehrer hervor. Er hielt stets zu Beginn eine Rede, in der er den Kindern erklärte, aus welchem Anlass das große Fest gefeiert würde.
„Liebe Kinder, liebe Anwesenden“, begann er und zeigte auf die Sonne an der Wandtafel. „Heute ist der letzte Tag der dreitägigen Puja zu Ehren des Sonnenwunders. Puja ist ein altes Sanskrit-Wort und bedeutet Verehrung. Verehrung für die Sonne, die mit ihrem magischen Gold die Herzen der Menschen geöffnet hat. Das, was wir das Ereignis nennen, geschah vor über dreißig Jahren. Damals hatte die Umweltzerstörung schreckliche Ausmaße angenommen. In vielen Ländern gab es Krieg, der die Menschen dazu veranlasste, ihre Heimat zu verlassen. Unzählige waren auf der Flucht. Eine Zeitlang sah es danach aus, als ob sogar ein dritter Weltkrieg ausbrechen würde, Truppen wurden in Stellung gebracht und wieder zurückgezogen, sodass sich die Menschen in Sicherheit wiegten. Dann aber, ganz plötzlich, brach doch der große Krieg aus. Er begann mit einem Chemiewaffenabwurf im Osten. Die Menschen hatten große Angst und befürchteten sogar einen Gegenschlag mit Atombomben. Sie liefen in die Kirchen und Moscheen und beteten zu Gott. Nur ein echtes Wunder, so glaubten sie, könnte die Menschen und die Erde noch retten. Und tatsächlich! Der Himmel kam den Betenden zu Hilfe. Allerdings sah es anfangs gar nicht danach aus ...“
Der Lehrer ging zur Tafel, malte ein paar graue Eier, die vom Himmel regneten, und erklärte: „Ein großer Asteroid näherte sich rasch der Erde, doch er explodierte auf mysteriöse Weise in der Erdatmosphäre, sodass er in viele große Gesteinsbrocken zerfiel, die schließlich unsere Erde erreichten. Es folgten Erdbeben, Vulkanausbrüche und Sturmfluten, und zur selben Zeit spuckte die Sonne eine riesige Plasmawolke aus. Sie zerstörte alle Kommunikationssysteme, und der Strom fiel aus. In vielen Städten entstanden große Brände, und bald umhüllte eine dichte Wolke aus giftigen Gasen und Asche die Erde. Es wurde ganz finster – das war der erste Tag des Ereignisses.“
Der Lehrer machte eine bedeutungsvolle Pause und schaute in die Runde. Er blickte in die entsetzten Gesichter der Anwesenden, die seinen Ausführungen gespannt gelauscht hatten. Dann ging er erneut zur Tafel und zeichnete eine Blase an den Mund der Sonne, in die er viele goldene Herzchen setzte. „Viele glaubten, dass es nun kein Überleben für die Menschheit mehr gäbe“, verkündete er mit gesenkter Stimme. „Doch die Sonne hatte in ihrer Gaswolke etwas Besonderes mitgebracht, nämlich Milliarden winziger Goldpartikel, die sozusagen in der Atmosphäre schwebten und auf die Herzen der Menschen so direkt einwirkten, dass sie sich unmittelbar zu öffnen begannen.
Am zweiten Tag der Dunkelheit fielen manche Menschen kurzzeitig in einen Tiefschlaf, und andere hatten Halluzinationen. Währenddessen spürten sie, wie sich ihre Herzen vollständig öffneten und mit Liebe erfüllt wurden. Nur noch die Nachbeben sorgten für wellenartige Erschütterungen, dann kam die Erde langsam wieder zur Ruhe.
Und schließlich, am dritten Tag, konnten die Menschen plötzlich in ihr Innerstes schauen. Alles Gute und Wahre wurde ihnen offenbar, aber auch alle Fehler, alle schlechten Gedanken und Taten – einfach alles kam ans Licht ihres Bewusstseins.“ Der alte Mann verließ ein weiteres Mal sein Pult, um jetzt einen Menschen auf die Tafel zu malen. Er versah seinen Körper mit vielen dunklen Flecken, denen er Begriffe zuordnete, wie etwa Gier oder Neid. „Man hat das Ereignis damals „Apokalypse“[i] oder auch „Enthüllung“ genannt“, sagte er sehr ernst. „Ein Teil der Menschheit war einerseits tief berührt, aber andererseits auch tief betroffen, die eigenen Schattenseiten so bloßgestellt zu sehen. Daher beschlossen die meisten von ihnen, sich zu ändern.“ Er malte das Gesicht der Figur auf der Tafel schamrot an, um zu bekräftigen, was damals mit den Menschen innerlich geschehen war, dann sprach er weiter: „Andere jedoch verdrängten das Schlechte, das ihnen enthüllt wurde, und wollten so weitermachen wie bisher. Sie versuchten, ihr Herz wieder zu verschließen. Es waren leider sehr, sehr viele.“ Er fügte dem Schaubild nun noch einen zweiten Menschen hinzu, der finster wirkte, und sagte mit trauriger Stimme: „Diese Menschen wurden vor den Augen der anderen immer durchsichtiger, und schließlich verschwanden sie ganz. Sie setzen seither ihr Leben auf einer anderen Schwingungsebene fort – dort existiert eine Parallelwelt, die der unsrigen Welt sehr ähnlich ist, sodass sie ihr vertrautes Leben weiterführen können.“ Mit einer energischen Handbewegung löschte der Lehrer mit einem Schwamm die finstere Figur wieder aus.
Als er sich seinem Publikum wieder zuwandte, sah er sichtlich erleichtert aus. Er streckte beide Hände nach oben, als wollte er mit ihnen in den Himmel reichen, und sagte in dankbarem Tonfall: „An diesem dritten Tag erschienen die Elementargeister der Lüfte. Diese Naturwesen litten schon lange unter der zunehmenden Umweltverschmutzung und vor allem unter den negativen Gedanken der Menschen. Nun war ihre Zeit gekommen, und sie durften endlich helfend eingreifen. Sie erzeugten mächtige, wirbelnde Stürme, die reinen Lichtäther mit sich führten, und dieser hatte die Kraft, die verseuchte Luft zu reinigen und frisch zu beleben.“ Ein wenig unbeholfen zeichnete er auf der Tafel schmetterlingsähnliche Wesen um die Erde herum.
„Die Menschen erfuhren eine Katharsis, das ist ein griechisches Wort und bedeutet seelische Reinigung“, erklärte der ehemalige Lehrer mit Blick auf einige Kinder, die ihn verständnislos anschauten. Er zeichnete einige rote Flammen über die dunklen Flecken, die den Menschen mit dem schamroten Antlitz umgaben. „Auf diese Art gereinigt, erweiterte sich das Bewusstsein der Menschen so stark, dass sich ihre Wahrnehmung automatisch auf das Verbindende zwischen allen Lebewesen richtete. Auch, wenn es schwer vorstellbar ist für die Kleineren von euch“ – er blickte auf die jüngsten Kinder in der ersten Reihe –, „waren die Menschen damals daran gewöhnt, sich selbst allem und jedem gegenüber als etwas Getrenntes zu empfinden, das war für sie ganz normal. Damit ihr es besser verstehen könnt, möchte ich es euch mit einem kleinen Spiel demonstrieren. Dazu bitte ich jetzt ein paar Zehn- oder Elfjährige zu mir hoch zu kommen.“
Auf diese Worte hatten viele der größeren Kinder, die aus den Jahren zuvor schon wussten, was nun passieren würde, nur gewartet, und etwa dreißig stürmten auf die Bühne. Ein paar wenige hatten sich zuvor verkleidet und standen nun als Baum, Sonnenblume, als Hund oder Eule dabei. Eine Frau verteilte Scheuklappen, die sich die Kinder am Kopf befestigten, sodass sie nicht mehr nach rechts und links sehen konnten. Dann stellte sich jeder einfach irgendwo hin, schaute dabei vielleicht den einen oder anderen an und drehte wieder anderen den Rücken zu.
„So war das früher“, erklärte der alte Mann. „Wir haben uns von vielen Mitmenschen und auch Tieren und Pflanzen abgesondert und nur wenige Lebewesen wie mit einem Tunnelblick wahrgenommen. Unser Bewusstsein war sehr eingegrenzt, sodass jeder für sich allein stand. Manche haben wir gemocht, mit anderen wollten wir nichts zu tun haben. Es gab viel Einsamkeit und Ablehnung, und das hat uns Kummer bereitet. Könnt ihr das von da unten sehen?“
Ein paar der jüngeren Kinder in der ersten Reihe nickten und schüttelten sich dabei. Die Kinder auf der Bühne kicherten leise, weil die Jüngeren sie so bedrückt anschauten.
„Dann aber kam die Liebe“, rief der Lehrer entzückt, „und unser Bewusstsein wurde ganz weit, weil die Liebe uns die Klappen von den Augen riss.“
Ein überaus freundlich lächelnder dicker Mann kam nun ein wenig ächzend auf die Bühne. Er trug ein Schild mit der Aufschrift „Liebe“ vor seiner Brust. Beherzt nahm er jedem Kind die Scheuklappen wieder ab.
„Liebe Kinder, stellt euch bitte im Kreis auf und haltet euch an den Händen“, bat nun der Lehrer, und die Kinder folgten schnell seiner Aufforderung. Obwohl es nur eine Demonstration für die Kleineren war, fühlten sie sich doch erleichtert, wieder in alle Richtungen sehen zu können.
Der dicke Mann stellte sich in ihre Mitte und zog mit der einen Hand ein Knäuel bunter Fäden aus der Jackentasche. Er reichte jedem Kind das Ende eines der Fäden, während er das andere selbst festhielt. Ein paar zogen kräftig daran, was den Dicken bewegte, breit grinsend hin und her zu schaukeln. Alle lachten, während der ganze Kreis in eine lustige Bewegung geriet. Die Kleinen in der ersten Reihe juchzten vor Freude.
„So ist es heute“, freute sich auch der Lehrer. „Wir fühlen uns nicht mehr voneinander getrennt, auch nicht von den Tieren und Pflanzen. Wir fühlen wie ein großer Organismus, der durch die Fäden der Liebe verbunden ist. Diese große Veränderung in unserem Bewusstsein nennen wir den ‚Quantensprung‘.
Der alte Lehrer klatschte in die Hände, um den Bühnenfiguren zu bedeuten, dass die Vorstellung jetzt beendet wäre. Das Publikum klatschte ebenfalls, um sich bei den Darbietern zu bedanken, die sich nun fröhlich hüpfend wieder zu ihren Plätzen bewegten.
„Das alles hatte sich innerhalb von drei Tagen ereignet“, fasste der Redner noch einmal zusammen. „Danach sah die Welt ganz anders aus. Am vierten Tag war die Atmosphäre bereits so gereinigt, dass es langsam wieder hell wurde auf der Erde. Es war jetzt ganz still“ – er hatte zu flüstern begonnen, sodass es in der ganzen Halle sofort leise wurde –, „und die Luft war glasklar.“ Er machte eine bedeutende Pause, bevor er zum krönenden Abschluss kam: „Das war der Moment, an dem die Menschen bereit waren für das eigentliche, noch größere Wunder, die Offenbarung des innewohnenden Gottes! Und wir alle werden in wenigen Minuten erneut dieses Wunder erfahren.“
[i] Apokalypse bedeutet „Enthüllung“ (wörtlich: „Entschleierung“); in der Bibel übersetzt als „Offenbarung“ (lt. Wikipedia).