SUSANNE EHLERT ZEITLOS LEBEN ALTERSLOS SEIN
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Staatsgründung
...
​Aus dem Gleiter stiegen tatsächlich Naila, der Erste und zwei Ratsmitglieder aus. Die Entscheidungshoheit im Staat, Herr Hartmann, meist nur kurz als der „Erste“ bezeichnet, war ein weit über achtzigjähriger, stattlicher Mann, der schon in Davor ein bekannter Politiker gewesen war. Aber im Gegensatz zu vielen anderen Politikern in Davor ließ er sich nie korrumpieren und hatte durch seine Integrität und seinen unermüdlichen Einsatz für die wahren Bedürfnisse der Menschen großes Ansehen im Volk erworben.  
Der Erste trat wie in alten Zeiten sehr formell in Anzug und Krawatte auf. Immer noch war er ein dynamisch wirkender Mann, der mit seinem sehr kurz geschnittenen, noch vollen grauen Haar viel jünger aussah. Er war in Begleitung von Naila, einer jungen Frau, die seine Enkelin hätte sein können.
Die zierliche Naila, die Herrn Hartmann als weise Frau unterstützend zur Seite stand, hatte einen schwebenden leichten Gang und wirkte auf den ersten Blick fast zerbrechlich, doch der Eindruck täuschte. Wenn sie sprach, war ihre Stimme laut und eindringlich, und mit ihren blauen Augen konnte sie tief in die Seele eines Menschen hineinschauen. Sie erfasste es sofort, wenn jemand nicht die Wahrheit sprach, wies ihn aber nie direkt darauf hin. Ihr Blick allerdings ließ verstehen, dass sie alle Lügen und alle Unechtheit durchschaute. Naila war eine recht hübsche Frau mit halblangen dunkelblonden Haaren, die aber weder an Kleidung noch an Schmuck Interesse hatte und sich auch nicht schminkte.
Sie gehörte zu den wenigen Trues, die mit „goldenen Sandalen“ geboren wurde, so nannte man in Swarganien diejenigen, die bewusst und im vollen Gewahrsein zur Welt kamen und diese Bewusstheit auch nicht nach den ersten Lebensjahren verloren. Die meisten anderen Trues erreichten erst später, oft nach vielen Jahren der Selbstbeobachtung und Meditation diesen Erleuchtungszustand. Meistens trug Naila eine Jeans, ein weißes T-Shirt und lief barfuß. Doch als sie in den Rat gewählt wurde, schenkte man ihr vergoldete Sandalen, die sie nun ab und zu bei Staatsempfängen trug.
Die Königin
.....
​ Die Lehrerin der Gesamtschule, wo Milena die sechste Klasse besuchte, hatte in dieser Woche „Karneval“ zum Projektthema gemacht. Die Schüler sollten Brauchtum und Geschichte des alten Fests, das auch Fasching oder Fastnacht genannt wurde, eruieren und über den Satz von Oscar Wilde, „Eine Maske erzählt uns mehr als ein Gesicht“, einen kleinen Aufsatz schreiben.
„Wer möchtet ihr einmal im Leben sein und warum?“ hatte sie gefragt und die Schüler angeregt, am Rosenmontag maskiert in die Schule zu kommen. Wie eigentlich jeder Vorschlag von ihr stieß auch dieser auf lautes Murren, und sogar üble Beschimpfungen wurden laut. Die junge Frau hatte die 6a, in der Milena die einzige Deutsche war, keineswegs im Griff.
„Es macht Spaß, in eine andere Rolle zu schlüpfen“, versuchte sie es nochmal. Ihr braucht dafür nicht groß etwas kaufen. Wer beispielsweise einen Clown darstellen will, schminkt sich einfach das Gesicht weiß, die Nase rot, oder für eine berühmte Sängerin wählt ihr eben deren typisches Styling. Lasst euch etwas einfallen! Wir feiern danach noch eine kleine Party. Ich besorge Cola, Burger und Pommes.“
Für die dreizehnjährige Milena klang das Partyangebot durchaus verlockend. Und wollte sie nicht immer schon eine schöne Königin sein? In der tristen Vorstadt wohnte sie mit ihrer Mutter in einem der heruntergekommenen, mit viel Graffiti verschmierten Mietshäusern im vierten Stock. Der Eingang zum Treppenhaus führte über einen verwahrlosten Hinterhof, vollgestellt mit Fahrrädern, Kinderwägen und Mülltonnen. Eine Ratte huschte vorbei, als Milena schnellen Schritts hindurchlief. Mittlerweile regnete es in Strömen. Durch ein geöffnetes Fenster drang das hysterische Kreischen eines Paars, das sich um Geld stritt.
„Zigaretten und Bier! An was anderes kannst du nicht denken. Und von was soll ich essen kaufen, du faule Dreckssau?“
„Halt die Klappe, dumme Fotze, sonst …!“
„Was sonst? Gib mir sofort meinen Geldbeutel zurück!“ Die Stimme der Frau klang schrill und aufgeregt. Es folgte ein dumpfer Schlag, dann lautes Geheul.
Milena hastete ungerührt die Treppe hoch. Sie hatte Hunger.
In der Küche standen Berge von schmutzigem Geschirr. Bis auf eine Miniportion angeklebter Spaghetti im Topf, etwas Thunfisch in einer aufgerissenen Dose und zwei Scheiben Toastbrot war der Kühlschrank gähnend leer. Milena nahm das Brot und suchte nach einem Aufstrich. Schließlich entdeckte sie ein geöffnetes Nougatglas auf einem Regal neben einer umgefallenen Schachtel Katzennahrung. Ein margarineverschmierter Löffel steckte darin und etwas Undefinierbares, das wie das Trockenfutter aus der Packung aussah.
„Hey, Mom, steh endlich auf, hier gibt’s nichts zu Essen“, schrie sie wütend. Doch die Mutter im Zimmer nebenan schnarchte weiter. Sie hatte die Türe aufgelassen und Milena sah die leer getrunkene Flasche Schnaps neben einer Lache aus Erbrochenem.
Angewidert warf sie die Tür ins Schloss. 
Zwei Seelen

...
​Im Haus war noch alles ganz still. Lenny hatte sich am Abend in sein Zimmer im Obergeschoß zurückgezogen, weil er spürte, dass Surya allein sein wollte.
Das Paar hatte zwei Schlafzimmer, wobei Surya meistens unten, in dem kleinen Raum im Erdgeschoß schlief. Sie war in der Regel schon sehr früh munter und liebte es, gleich nach dem Aufwachen barfuß über den Rasen zu laufen, um das kühle, feuchte Gras unter den Fußsohlen zu spüren.
Surya streckte und dehnte sich ein wenig und öffnete die Terrassentür. Ein angenehm kühler Luftzug streifte ihre nackte Haut. Sie warf sich ihr kurzes grünes Leinenkleid über und ging hinaus. Der Mond stand noch als schmale Sichel am Himmel.
Ich muss mir über das, was ich wirklich will, vollkommen im Klaren sein, dachte sie. Vielleicht hilft es mir, wenn ich einen längeren Spaziergang mache. Ins Büro mag ich heute sowieso nicht gehen. Justin wird es schon verstehen.
Im Garten raschelte es. Ein kleiner Igel eilte unter der Hängematte davon. Surya hatte plötzlich den Eindruck, alles viel intensiver als sonst wahrzunehmen, fast so, als ob jemand an ihren Sinneserfahrungen teilhaben würde.
Sie schlenderte an den Beeten vorbei, wo blauer Rittersporn, rosa Malven und Löwenmäulchen wuchsen, roch ein wenig an den üppig blühenden Rosen, die an Pits Geräteschuppen hochrankten und überquerte den schmalen gekiesten Fußweg, der die Gemeinschaftsfläche ihrer Hausgruppe von dem Nutzgarten der Grundeinheit trennte.
Am Eingang dieses Gartens war eine Anschlagtafel angebracht, auf der jeder sich informieren konnte, welche Arbeiten demnächst zu erledigen waren. Nur selten hatte sich Surya bisher daran beteiligt. Ihr fehlte einfach die Zeit. Betroffen stellte sie fest, dass sie bereits seit über vier Wochen dieses Gelände nicht mehr betreten hatte. Inzwischen waren die Bohnen schon hoch aufgewachsen und ihre Hülsenfrüchte bald erntereif. Liebevoll strich Surya mit ihren Händen über die grünen, sich samtig anfühlenden Schoten und nahm einen tiefen Atemzug. Wie herrlich die Erde nach Sommer duftete!
Auch die vielen Beerengewächse trugen reife Früchte. Ein paar von ihnen durfte ein jeder pflücken, doch der Großteil der Ernte wurde im Laden verteilt. Surya naschte ein paar süß schmeckende Erdbeeren, dann lief sie langsam an dicken Kürbissen, Möhren und Zucchini vorbei und verließ wieder den Garten.
Als sie ins Zentrum der Grundeinheit gelangte, bemerkte sie überrascht, dass Georg auf einer der Bänke unter der Esskastanie saß und mit einem anderen Mann seines Alters plauderte. Der ehemalige Bäcker war ein Frühaufsteher aus Gewohnheit. Aber auch in der kleinen Küche im Gemeinschaftsgebäude schien schon jemand zu sein, obwohl gerade erst die Sonne aufgegangen war. Sie hörte das Klappern von Tassen, und der Geruch von Kaffee stieg ihr in die Nase.
„Hi, Surya, so früh auf den Beinen?“ rief Georg ihr fröhlich zu. „Hast du jetzt schon eine Yogastunde?“
Surya verneinte. Ihr fehlte die Lust auf ein Gespräch und Georg plauderte gern recht lange. Deshalb ging sie schnell weiter. Irgendwie zog es sie in den nördlichen Bezirk. Insgeheim hoffte sie Richard zu treffen, den True aus Karlsruhe, der vor kurzem dorthin gezogen war. Vielleicht hatte er einen Rat für sie.
Ihr Weg führte durch eine grüne Wiese, die von einem schmalen, sich schlängelnden Bächlein durchzogen wurde, vorbei zu einer kleinen Kneippanlage. Von hier aus konnte sie den hohen Turm mit dem als Blütenkelch ausgebildeten Andachtsraum bereits deutlich sehen.
Niemand außer ihr war unterwegs. Nur zwei Katzen spielten im Sand eines Spielplatzes. Doch als sie zu den Gewerbeeinheiten gelangte, traf sie eine junge Frau, die gerade die Tür zum Regionalladen öffnete. Vor dem Geschäft standen einige vollgefüllte Kisten mit frisch geerntetem Biogemüse und Früchten.
 
In ganz Swarganien gab es nur noch Erzeugnisse aus Biogärten, denn es war selbstverständlich, dass alles in bester Qualität angebaut wurde. Auch bei allen anderen Produkten, die man erwerben konnte, legte man auf Qualität und Nachhaltigkeit großen Wert.
​
Schnee
..
Gleich, nachdem Daniel gegangen war, hatte sie ihren Geist für alle telepathischen Kontaktversuche verschlossen. Sie wollte für niemanden erreichbar sein, auch für Lenny nicht, falls der sich doch einmal bei ihr melden sollte. Um sich ein wenig Abwechslung zu verschaffen, hatte sie einige neue Bücher mit in die Hütte geschleppt, aber irgendwie interessierten die sie plötzlich nicht mehr. Nach ein paar Mal darin dem sie ein paar Mal darin herumgeblättern hatte, legte sie sie lustlos zur Seite.
Was hatte ihr Kalima alles aufgetragen? Ja, klar, die Intensivierung der Sinne, die Atemtechnik, wobei sie zwischen Ein- und Ausatmen sich ausdehnen sollte und das Nachdenken über die Ich-Identität. Doch zu all dem fühlte sie sich, genau wie zum Lesen, nicht recht motiviert. Nach einiger Zeit merkte sie, dass sie eigentlich gar nichts mit sich selbst anfangen konnte. Alle Wege in der Umgebung kannte sie bereits und das Essenkochen machte ihr nur wenig Spaß. Sie begann sich schrecklich zu langweilen. Manchmal schaute sie den ganzen Tag lang teilnahmslos aus dem Fenster.
Wäre der Winter doch bloß schon vorbei, seufzte sie manchmal, und anstatt sich auf ihre spirituellen Aufgaben zu konzentrieren, erinnerte sie sich schwermütig an ihre schöne Kindheit, an die einstige lebhafte Studentenwohngemeinschaft, die ersten Jahre in Sharing mit den Kindern oder an die vielen Liebesstunden mit Lenny.
All das Schöne war endgültig vorbei und würde so nie wieder kommen. Surya versank in einem Meer aus Tränen. Eine Wehmut hatte sie ergriffen, ein Leid, das alles um sie herum ausblendete. Aber die Intensität der Gefühle hatte auch einen Reiz, dem sie sich nicht entziehen konnte.
Die Vergänglichkeit ist von schier unerträglicher Süße, schrieb sie eines Nachts in ihr Tagebuch, als sie wie oft schlaflos wach lag. Kann man etwa an Leid genauso wie an Freude hängen? Der Gedanke bereitete ihr ein gewisses Unbehagen. Sie stand auf und lief unruhig in der Hütte auf und ab.
Ich hafte viel zu sehr an allem, dachte sie. Vor kurzem meinte ich schon, Lenny losgelassen zu haben, aber es war nur von kurzer Dauer. Wahrscheinlich nutzt es nichts, wenn man sich nur einmal der Trauer stellt. Die Loslösung ist ein Prozess!
Anhaftung ist eine der Ursachen des Leids und sehr schwer zu beseitigen, hatte Kalima ihr einst erklärt. Aber erst wenn man Anhaftungen und Identifikationen überwunden hat, öffnet sich das Bewusstsein und man kann den inneren unvergänglichen Kern, das Absolute, erfahren. Absolut kommt von dem lateinischen absolutos und bedeutet losgelöst, frei von allem, ergänzte Kalima damals noch. Frei jedoch fühlte sie sich keineswegs. Alles war schwer, schien an ihr zu kleben. Seitdem sie hier oben allein war, hatte sie keinerlei Fortschritte gemacht. Eher im Gegenteil.
Surya stöhnte. Es war sinnlos, sie kam nicht weiter.
Resigniert ließ sie sich wieder in ihr Bett fallen. Doch es dauerte nicht lange, und sie wurde von einem furchtbaren Donnerschlag wach. Draußen heulte der Wind, die Fensterläden klapperten. Es wurde plötzlich so kalt, dass Surya sogar unter ihrer Decke fror. Sie stand auf und schürte den Ofen an. Der Wetterumschwung passte ihr gar nicht. Morgen wollte eigentlich Daniel kommen und ein paar frische Lebensmittel bringen. Die Hülsenfrüchte und das eingemachte Obst hingen ihr schon zum Halse raus.
Es wurde den ganzen Tag nicht richtig hell, es schneite und schneite. Abends ließ der Wind etwas nach und der Schnee fiel nur noch vereinzelt in dicken Flocken. Surya beschloss, nach draußen zu gehen, um den Weg vor der Haustüre frei zu schaufeln. Sie zog sich ein paar warme Sachen an, setzte ihre rote Bommelmütze auf und hängte sich einen dicken Schal um. Draußen kam gerade der Vollmond hinter ein paar grauen Wolken hervor. Der Schnee glitzerte im fahlen Licht. Es roch nach Winter.
Plötzlich ein Knacken im Ohr. Es war so, als ob jemand das ewig plappernde Gedankenradio in ihrem Kopf ausgeschaltet hätte. Stille. Nichts als pure Wahrnehmung.
 In der Ferne blökte ein Rehbock. Die Tanne vor dem Haus verströmte einen harzigen Duft. Surya legte ihren Kopf in den Nacken und spürte, wie ein paar große Flocken sanft ihr Gesicht berührten. In der Kälte bildete ihr Atem kleine Wölkchen. Lautlos versanken ihre Schritte in der weißen Weichheit. Sie kam kaum vorwärts und keuchte vor Anstrengung. Alles um sie herum war mit einem Mal so neu, so bedeutsam, so intensiv. So wie damals, als sie noch ein Kind war.
Drinnen in der Hütte wärmte sie nach getaner Arbeit ihre klammen Finger am Ofen. Das Holz knisterte und loderte hell auf, als sie ein paar trockene Stücke nachlegte. Sie schaute den tanzenden Flammen zu und setzte Teewasser auf. Es gab in diesem Augenblick nichts, was sie lieber getan hätte. Alles war richtig, vollkommen gegenwärtig. Eine stille Freude erfasste sie. Als sie in langsamen Schlucken ihren Tee trank, meinte sie noch nie etwas Besseres zu sich genommen zu haben.
Auf einmal verspürte sie den unbändigen Drang, sich auf ihr Bett zu setzen. Sie verschränkte die Beine im Meditationssitz und schloss die Augen. Wie festgewurzelt saß sie über Stunden dort. Ein feiner Summton war zu hören, der ihren Körper durchdrang und ihre Zellen vibrieren ließ. Der Atem kam in immer längeren Abständen, ohne dass sie ihn bewusst kontrollierte. Irgendwann war es so, als ob sie ganz aufhören würde zu atmen. Eine lange Pause zwischen den Atemzügen entstand, in der sie sich unendlich ausdehnte. In dem Moment fielen alle Schichten, die ihr absolutes Selbst verbargen, von ihr ab. Glückseligkeit durchströmte sie.
Der Morgen dämmerte bereits, als sie von ihrem Lotussitz aufstand. Etwas hatte sich verändert, obwohl doch alles so war wie zuvor. Die Sehnsucht war weg! Dieses entsetzliche Ziehen in der Brust, dieses Warten auf Etwas.
Sie hatte Erfüllung gefunden.  



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